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Die Handschriften zum Graduale

Adiastematische Handschriften (10. Jh.)

Westfränkische Handschriften

Laon (~930)

Die Leithandschrift der westfränkischen Tradition ist der codex Laon, 930 in Metz (?) entstanden. Er steht weitgehend isoliert unter den Handschriften und hat keine Entsprechung im Antiphonenrepertoire. Die Besonderheit des Codex ist der „uncinus“, das Häckchen (Agustoni), das die ältere Musikwissenschaft „Fliegenfuß“ nennt, ein geschwungener Tractulus mit Aufstrich; er steht für die normale Silbe. Ein melodischer Höhepunkt wird hingegen mit aufwendiger Virga notiert, leichte praetonische Silben mit bloßem Punctum. Der unschätzbare Wert dieses Codex ist sein Bemühen, die Endartikulation jeder Silbe zu notieren. Erst Laon ermöglicht uns, die St.Galler Notenschrift nicht misszuverstehen. Aus dieser Position heraus wurde das Graduale triplex publiziert:
a) Die Quadratnoten des Graduale romanum von Solesmes,
b) Die Neuem von St.Gallen (R.Fischer), sie artikulatorisch zu interpretieren/korrigieren und
c) Die Neumen von Laon (M.-C. Billecqocq) um St.Gallen (C,E) nicht falsch zu interpretieren.
Das Graduale triplex ist den Schülern von Eugene Cardine verdankt.

Chartres (10. Jh.)

Ch notiert sehr konsequent initio debilis. Es unterscheidet nicht Quilisma von Oriscus, die in der Handschrift mit ein und demselben Zeichen dargestellt werden. In 1056 einige interessante Vergleiche möglich; sieh auch L und E.

Mont Renaud (10. Jh.)

Es ist vor allem bei melismatischen Kompositionen schwer festzustellen, wo eine Melodie weiterführt. Wichtig ist, dass bei jeder Silbe die Neumen wieder unmittelbar über den Buchstaben beginnen.

Pes + Clivis

Torculus

MR verwendet drei unterschiedliche Graphien des Trc: eine eckige für den Normalfall (Trc quadratus?), eine Graphie bei der der erste Ton abgetrennt ist, diese steht für den nkTrc, und eine gerundete Form (Trc rotundus).

Der Trc rotundus wird von oben, von unten und unisonisch erreicht, er kann daher kein „melodischer Trc“ sein wie in Ch oder Bv33, sondern muss artikulatorische Bedeutung haben; das heißt, er ist ein Trc initio debilis.
Trc i.d. von oben erreicht: 0023 „salvum me fac“, 0033 „se-di-bus“, 0047„exspecta-bo“.
Trc i.d. von unten erreicht: 0033 „hodie ge-nui te“, 0025 „clarifica-tu-rus esset“, 0012 „in-vo-cavi te“.
Trc i.d. unisonisch erreicht: 0033 „i-ter haberet“, 0050 „adversum me“, 0070 „petitiones ves-trae“. MR setzt sehr oft die Trc i.d. anders als E, L und Ch, ohne dabei die Sprechlogik zu verletzen. Das gibt diesem codex seinen Stellenwert, er ist nicht bloß ´more of the same`.


Ostfränkische Handschriften – St. Gallen

Cantatorium (~923)

xxxxxxxxxxxx

Einsiedeln (~980)

xxxxxxxxxxxx

G342 (10. Jh.)

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Milano (9. Jh.)

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G339

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Bamberg lit. 6 (10. Jh.)

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G374 + 376

Der Weg zur Diastemie (ab dem 11. Jh.)

Aquitanische Handschriften

Albi schreibt die richtigen Intervalle ohne Rücksicht auf Halbton, Yrieix versetzt gesamte Melodieteile, um die richtige Halbtonposition zu erhalten.

Albi  

Es gibt ein Wiederholungszeichen auf der Textzeile, cf. 1392, 1413. Es ähnelt einer modernen Achtelnote. Wie übertragen es als fetten Punkt in der Textzeile.

Yrieix

Beneventanische Handschriften

Bv33

Acuasta

Bv40

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Bv39

xxxxxxxxxxxx

Bv35

xxxxxxxxxxxx

Bv34

Den Dreiklang „fa-la-do“ notiert Bv34 immer mit Oriscus auf „la“.

Norditalienische Handschriften

Angelica

Auch wenn Ang adiastematisch ist, ist es doch eine jüngere Handschrift. Sie geht oft mit Mod gemeinsam (cf. 1515).

Quilismaproblem GR3 - 0212 „ini-mi-cos“, TR8 - 1505 „Effuderunt

litterae: p, n OF-V1 0917 „et iustitiam“; p, s OF-V1 0918 „montes“

Modena

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Weitere Handschriften – die Wahl von Solesmes

Die beiden folgenden Handschriften sind die Hauptquellen der Solesmenser Restauration gewesen, was die Melodie betrifft. Das Tonar von Montpellier war Hauptquelle, Klosterneuburg in Zweifelsfragen die Entscheidungshilfe.

Montpellier

Der codex stammt aus Dijon (Burgogne) und ist ein Tonar. Neben jedem Introitus sind aber die Titel der folgenden Propriumsstücke ( GR-AL-OF-CO ) als Marginalie notiert. Die Melodie ist in diesem Codex anders als bei seinen Zeitgenossen manchmal archaisch und bestätigt nicht selten die adiatematischen Quellen.

Halbtonhäkchen bei si-be-molle cf.1009 „adipsum ore meo“

Klosterneuburg (heute Graz 807)

Entstanden in Passau, wurde der codex bis Mitte des 20. Jhs. im Chorherrenstift Klosterneuburg aufbewahrt (Staatskloster der Babenberger Herzöge) und liegt heute in der Universitätsbibliothek Graz. Der codex Klosterneuburg ist die Quelle des „germanischen Choraldialekts“.

Die Melodieeigenheiten des „germanischen Choraldialekts“ sind in zwei Punkten erklärt:
1) Das „si“ hebt sich grundsätzlich und ausnahmslos (?) zum „do“
2) Tonwiederholungen werden durch Wechsel- oder Durchgangstöne aufgelöst.

Kl gilt in Fragen der Anzahl der Töne als verlässliche späte Quelle (L.Agustoni, R.Fischer, G.Joppich). Meist stimmt sie mit C / E und L / Ch überein. Das macht diesen codex zu einer wichtigen Entscheidungshilfe bei Fragen des Oriscus.

Auftaktige kleine Terzen der anderen Handschriften werden nicht selten, man könnte sagen: grundsätzlich zu Auftaktquarten umgewandelt. (z.B.: OF-V 1113)

Der Begriff „germanischer Choraldialekt“ entstand Anfang des 20.Jahrhunderts, am Vorabend des ersten Weltkrieges. Die geographische Zuordnung zum ostfränkischen Raum („germanisch“) ist nur eine mögliche Dimension. Die Auflösung des „si“ zum „do“ ist ein Phänomen des 12.Jahrhunderts, vielleicht mehr ein zeitliches als ein geographisches Phänomen, findet es sich doch nicht nur in ostfränkischen, nunmehr deutschen Handschriften, sondern auch in der Zisterziensertradition und sogar in nordfranzösischen Quellen (Fossés 2, Paris). Die Auflösung des „si“ zum „do“ ist ein Phänomen des Hochmittelalters. Das kulturelle Zentrum war in dieser Zeit das Burgund mit den Klöstern Cluny und Citeaux.

Eine befriedigender Begriff für dieses Phänomen wurde bisher nicht gefunden.

Zisterzienserreform

Zwettl 196 

Die Zisterzienser sind die ersten „Musikwissenschaftler“ des Mittelalters. Sie versuchen den „ursprünglichen Gregorianischen Choral“ mit den Mitteln und aus den Postitionen ihrer Zeit wiederherzustellen. Sie suchen Quellen (in Metz!) und finden wenig. Ihre Revision geht von einem Maximalambitus der Dezim aus (die zehnseitige Harfe Davids) und verkürzt und „normalisiert“ nicht selten Melismen. Als Zeitgenossen des „germanischen Choraldialekts“ stehen sie in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zwischen dem Zeitgeist und den Quellen. Wesentlich für uns heute: Sie kennen kein Quilisma und übertragen den (bisher so genannten) „Quilsmascandicus“ grundsätzlich als „Terzpes“.

Die zentralistisch hierarchische Struktur des Ordens führt zu einer uniformen und unveränderten Gestalt der Melodien durch die acht Jahrhunderte bis heute, von kleinsten regionalen Anpassungen vor allem im 19. Jahrhundert abgesehen.

Auch viele Korrekturen, die das Tridentinum viel später offiziell und allgemein vornimmt, sind schon bei den Zisterziensern vorgegeben: Etwaige zweite Verse im AL werden gestrichen. Die OF-Verse fallen grundsätzlich und ausnahmslos weg.

Zt schreibt nicht selten durch anderen Schlüssel als die anderen Handschriften ( F statt C ) grundsätzlich ein si-be-molle vor, wie in der modernen Notenschrift ein „b“ am Anfang der Zeile.

In Z übertragen wir bei der Liqueszenz grundsätzlich keinen Nebenton, weil diese Handschrift selbst in Fällen wo eindeutig kein Nebenton sein kann, Schnörksel bis zur Terz schreiben.

Unsere Restitutuion

Wir versuchen eine möglichst frühe Gestalt der gregorianischen Gesänge zu restituieren. Dabei folgt unsere Restitutuion einem klaren Schema, wie es durch den Schülerkreis um Eugene Cardine vorbereitet wurde.

Maß aller Dinge ist das Cantatorium (für GR, TR und AL) und Einsiedeln (für IN, OF und CO).

Die Melodierestitution beruht trotz der späten Datierung dieser Handschrift auf Benevent 34, das durch eine ganze Reihe älterer beneventanischer Handschriften gut abgesichert ist (Bv 33/ 40/ 39/ 35). Dem entgegen stehen die beiden Aquitanier Albi und Yrieix, die ein lebendiges Bild vom Übergang zur zweiten Gregorianik liefern. Wie schon Rupert Fischer formulierte: Benevent contra Aquitanien ist 50 : 50 zu werten. Stimmt auch nur eine der aquitanischen Handschriften mit Bv34 überein, so ist das die zu restituierende Melodie (sehr oft durch die litterae signifivativae in E, oder die unvollkommene Diastemie in L und Ch bestätigt). Die weiteren diastematischen Handschriften bieten ein gutes Bild davon, wie sich die Melodien zur 2. Gregorianik hin verändern und wie es zur Solesmenser Restitution kommen konnte.

Die Restitution der Artikulation (des gregorianischen Rhythmus) geht ebenfalls von Cantatorium und Einsiedeln aus. Die st.galler Notation wäre jedoch nicht ohne die Entschlüsselung und Bestätigung durch die sehr anders geartete, aber das Gleiche bedeutende Notation in Laon und Chartres zu verstehen.

Eine Neume beginnt nicht mit der ersten Note, aber sie hört mit der letzten auf (L. Agustoni).

Das Graduale novum (es beruht auf einem Forschungsprojekt, das G. Joppich initiiert hatte) setzt sich konsequent mit der Melodierestitution auseinander. Auf artikulatorische Erkenntnisse geht es praktisch nicht ein. Die Mitte des 19. Jh. von Joseph Pothier geschaffene Quadratnotenschrift (inspiriert von den Hss des 15. Jh. in Angers Westfrankreich) wird ohne Wenn und Aber weiterverwendet.

Unsere Restitution berücksichtigt auch artikulatorische Fragen und entwickelt die Quadratnotenschrift den artikulatorischen Erkenntnissen entsprechend weiter. Dabei ist klar, dass keine Notenschrift auf Linien die artikulatorischen Feinheiten der Neumen in ihrer Blütezeit restlos darstellen kann. Wir versuchen ein Notenbild zu entwickeln, das nicht ständig in eklatantem Widerspruch zu den Neumen steht, wie das im Graduale romanum (triplex), aber auch im Graduale novum passiert.

Ein weiterer wesentlicher Ansatz sind die Sinnzeilen. Während Solesmes bewusst nicht oder kaum an sprachlichen Endpunkten den Zeilenumbruch setzt, Hintergedanke ist die „ewige Melodie“ der Romantik, setzen wir grundsätzlich nur an Satzenden und Gliederungsstellen den Zeilenumbruch. Das führt zu unterschiedlich langen Zeilen im Druckbild. So können wir auch auf die divisiones weitgehend verzichten.

Darüber hinaus ergeben unsere Arbeiten an den Quellen und der centologischen Struktur des Gregorianiaschen Chorals auch neue Erkenntnisse zu Themen wie initio debilis, Quilisma, Liqueszenz, Oriscus. Diese Erkenntnisse fließen ebenfalls in das Notenbild ein.

Gregorianischer Choral ist nicht allzeit immer dasselbe gewesen, es gab eine historische Entwicklung. Wir gehen ad fontes.

quellen/quellen_gr.1569075204.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/09/21 14:13 von xaverkainzbauer