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DIE OF-Antiphonen des PROTUS authenticus

eine centologische Untersuchung - Xaver Kainzbauer

0.1.

Seit dem 19. Jh wird wieder der Versuch unternommen, die Kompositions­regeln des Gregorianischen Chorals zu entschlüsseln, wird versucht,
der - ars cantilenae - auf die Spur zu kommen.

1) Helisachar, Epistola ad Nibridium archiepiscopum Narbonensem

Walter Howard Frere analysiert Ende des 19.Jh das Sarum Antiphonal (13.Jh.) und unterscheidet grundsätzlich zwischen Antiphon und Responsorium, und damit zwischen antiphonaler und responsorialer Komposition.

Paolo Ferretti entwickelt Anfang 20.Jh. ausgehend von den Akzenten der lateinischen Sprache eine allgemeine melodische „Esthetik“. Seine Basis ist die editio typica von Solesmes. Er kennt Centones und unterscheidet Intonatio, Zentralformel und Finalis. Seine Beispiele stammen aus den Offiziumsantiphonen des 1.Modus und er zählt die meisten der Centones auf, ohne sie zu deuten.

Unser neuerlicher Versuch der Centoanalyse geht in fünf Schritten vor:

1) Wir erstellten eine digitale Bibliothek des Offiziums- und des Messrepertoires, wobei für die Antiphonen 14 wesentliche und vor allem älteste Handschriften ausgewählt wurden, dazu die 10 Codices des CAO. Dabei ist codex Hartker, gegen das Jahr 1000 geschrieben, adiastematisch und mit detaillierter Neumierung, zweifelsfrei die wichtigste Quelle. Aber auch der bisher wenig berücksichtigte codex Mont Renaud, adiastematisch 10. Jahrhundert, wird einbezogen. Weiters werden ihre etwa 200 Jahre jüngeren Tochterhandschriften verwendet, für Hartker Karlsruhe 60 und für Mont Renaud Worcester 160. Die wichtigsten Zeugen der beginnenden Diastemie sind die Aquitanier Toledo 44.1 und Toledo 44.2 des 11. Jahrhunderts. Weiters wichtig ist die beneventanische Tradition mit Benevent 19/20, Benevent 21, dazu Monte Cassino. Hinzugezogen haben wir auch die bisher eher vernachlässigte Zisterziensertradition mit codex Zwettl 399/402, und diese inzwischen ergänzt um den ältesten codex dieser Tradition Westmalle. Das Antiphonale Monasticum von 2005-07 beruft sich auch auf die Pariser Handschriften St.Maur fossés und St.Denis (BNP 12584, 12044, 17296), also haben wir diese auch dazugenommen. Weiters finden sich noch Lucca 601 und die zusätzlichen codices des CAO Durham, Ivrea, Monza, Verona, Silos; und die zur St.Galler Tradition gehörenden Handschriften Bamberg und Rheinau, ergänzt um Quedlinburg. Die Antiphonen wurden in der Reihenfolge des codex Harter durchnummeriert.

2) Zweitens erstellten wir Tableaus, vergleichende/synoptische Tafeln dieser Handschriften. Solche Tableaus existieren zwar seit bereits über 100 Jahren in Solesmes, sind jedoch unter Verschluss, womit sich Solesmes lange Zeit ein Monopol in der Choral­forschung sicherte.

3) Drittens wurde daraus ein musikalischer Normtext erstellt - ein Ergebnis, das sich an den adiastematischen Neumen von St. Gallen (Hartker für die Antiphonen) orientiert und ein möglichst frühes Stadium der Melodieentwicklung wiedergibt. Es wurde bald klar, dass die üblichen solesmenser Quadratnoten nicht ausreichen, jüngere Erkenntnisse über die adiastematischen Neumen auf Linien darzustellen. Die Weiterentwicklung der Quadratnoten ist work in progress. Die Tableaus, die Handschriften und unser Normtext können im Internet unter „www.omnigreg.at“ eingesehen werden.

4) Der vierte Schritt war das Erstellen von Cento-Blättern, vergleichende Tafeln aller Fälle eines bestimmten Cento. Im Vergleich aller ähnlichen Stellen werden die Regeln erkennbar, nach denen die Centones gebaut sind.

5) Ausgehend vom ‘CENTO’, quasi dem melodischen Fertigbauteil, unterscheiden wir mit Ferretti:
TER = Terminatio = Finalformel,
INC = Incipit = Initialformeln  und
MED = Medium = Zentralformeln.
Centones werden
a) zuerst einmal, vergleichbar einer grammatikalischen Struktur (Hauptsatz, Nebensatz) in ihrer funktionalen Position eingesetzt. Darüber hinaus ist
b) andererseits auch der Sinngehalt, die Aussageabsicht für die Wahl dieses bestimmten Cento ausschlaggebend. Drittens entscheidet
c) die Anzahl der Akzente und ihr Gewicht zueinander über die konkrete Gestalt des Cento. Die folgenden grundlegenden Begriffe, Definitionen, haben sich im Laufe der Analyse gefestigt:

Ein ‘TYPOS’ ist eine ganze Antiphon, eine immer gleiche Melodie, die bei gleicher Satzstruktur, gleicher Aussagerichtung und gleichem Tonfall auf verschiedene Texte angewendet wird (um im Vergleich zu bleiben: ein Fertighaus).

Eine ‘FORMULA’ ist eine Melodiefloskel aus zwei oder drei Silben. Sie wird einem Cento beigestellt oder aufgesetzt, um ihm zusätzlich eine bestimmte Aussagerichtung, eine bestimmte Stimmung zu geben.

Auch einzelne NEUMEN (eine Neume ist eine Silbe), übernehmen formelhafte Aufgaben, dabei ist die Grenze zwischen Formel und Neume fließend.

Die nun folgenden Ausführungen zur centologischen Struktur der Offiziums-Antiphonen im 1.Modus, zu ihrer „Sprachlogik“, leben von der Evidenz in die Quellen, die Tableaus, und die Cento-Tabellen. Die Nutzung unserer Website wird in ein weiterführendes Verständnis dieses Artikels ermöglichen. www.omnigreg.at - synopsis wiki - antiphonale - rechts oben im Feld „SUCHE“ die Nummer der Antiphon eingeben.



1. TERMINATIO

Gregorianische Melodien sind grundsätzlich vom Schluss her gedacht: „in finis iudicabitur“. Daher ist es sinnvoll mit dem Ende zu beginnen. Alle Schluss­f­ormeln des Protus authenticus lassen sich auf eine einzige Grundmelodie zurückführen: die fallende Linie la-sol-mi-re (a-g-e-d). Sie ist der gregorianische PROTUS authenticus.

1.1. Terminatio von der Quint

1TER de5. Diese klassische Struktur allein kann schon eine ganze (kleine) Antiphon bilden:
Ein kleiner Ausflug in die Semiologie: Das celeriter c auf der ersten Silbe und das Episem am Wortende zeigen in genial einfacher Weise, was die Neumen Hartkers können. Das celeriter weist auftaktig auf den Akzent „Lau-dá-te“ hin; das Episem rundet das Wort auf der Endsilbe ab und verhindert ein taktierendes Betonen der Akzentsilbe. Das erzwingt einen sprachlichen Zugriff an Stelle eines taktierenden Absingens. Der weitere Verlauf ergibt sich nun von selbst.
Aus diesem Ursprung sind alle weiteren Möglichkeiten einer Terminatio im Protus authenticus entwickelt:


1.2. Terminatio von der Terz

1TER de3 Liegt die Antiphon nicht auf Ténor „la“ sondern tiefer, wird eine verkürzte Form „Protus von der Terz“ verwendet


1.3. Terminatio mit der Clivis

Soll die Antiphon ruhig, breit ausfließen, so wird der Pes „mi-fa“ zur Clivis „fa-mi“ verändert . 1TER Clv


1.4. Terminatio mit nachgestelltem Wort

Wird dem eigentlichen Text ein (erklärendes) Wort nachgestellt, meist ist es Halleluja, so wird Terminatio verbo addito (mit nachgestelltem Wort)
1TER verb.add verwendet.


1.5. Terminatio vorletzter Akzent betont

1TER penult Ist der vorletzte Akzent wichtig, wird er mit Quartpes „re-sol“ hervorgehoben (vorletzter Akzent betont). 

Hier treffen wir zum ersten Mal auf den TYPOS des 1.Modus: vierteilig, am häufigsten mit 1TER penult, immer mit 1INC clv (s.u.).


1.6. lapidare Terminatio

1TER conc Ein lapidarer Textschluss wird einfach mit der Tonfolge „fá-sol-mí-fa-ré“ konzis zu Ende geführt.


In allen Fällen wird erst mit dem letzten Akzent die Finalis „re“ erreicht, egal ob meist Paroxytonon (PO „véster“ ), Proparoxyton (PPO „hóminum“) oder selten Oxytonon (O „réx“). Somit sind alle tatsächlich möglichen Schlüsse des 1.Modus aufgezählt.


1.7.1. zur Liqueszenz

Nie wird in der Terminatio die Clivis vor der Finalis/dem letzten Akzent auf zwei Silben aufgeteilt. Sie bleibt der letzten Silbe vor dem letzten Akzent vorbehalten, in den sie verbindend hineinführt. Soll der letzte Akzent allerdings zusätzliches Gewicht erhalten, wird die Clivis davor zum Cephalicus reduziert. Der Cephalicus staut den Sprachfluss und provoziert so den folgenden Akzent.

2) G.Joppich, Ritenuto ritardando und accelerando, in: Psallite sapienter. Festschrift zum 80.Geburtstag von Georg     
Béres 238-284, Budapest 2008

Mit Blick auf die Handschriften des 12.Jahrhunderts war man im 19.Jahrhundert der Überzeugung, ein Cephalicus der adiastematischen Handschriften sei (immer) eine Clivis, deren zweiter Ton in seiner Sonorität vermindert ist, aber trotzdem erklingen muss. Daher schrieb man immer eine kleine Nebennote dazu. Fälle, wo vom Melodieverlauf her ein Nebenton undenkbar ist, ließ man (Pothier) stillschweigend unter den Tisch fallen und schrieb einfach Punktum.

Mitte des 20.Jahrhunderts machte man mit denjenigen Liqueszenzen ernst, die nicht aus einer Clivis abgeleitet sein konnten, sondern von einer Virga entstanden sind und unterschied •augmentative Liqueszenz: eine Eintonneume wird in ihrer Sonorität vermehrt, ohne einen zweiten Ton zu bilden, und •diminutive Liqueszenz: Eine Zweitonneume verliert in ihrem zweiten Ton Klangkraft und dieser reduziert sich zu einem Schwalaut, einem klanglichen Anhängsel auf anderer Tonstufe. In der aus dieser Erkenntnis folgenden Praxis wurde und wird dieser zweite Ton als kleine Note geschrieben aber trotzdem fast immer wie ein voller Ton gesungen -

Aus dem Studium der adiastematischen Handschriften und den semiologischen Untersuchungen G. Joppichs, gestützt durch centologische Untersuchungen, entstand am Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Sicht der Liqueszenz: Ein Cephalicus oder Epiphonus ist immer nur ein Ton, zwar klanglich vermehrt, aber nie mit Nebenton, ob er nun aus Clivis oder Pes entstanden ist (diminutiv), oder aus Virga oder Tractulus (augmentativ). Die semiologisch/centologischen Untersuchungen zeigen, dass die weiterführende Kraft der Clivis durch Liqueszierung verhindert werden soll, dass der Cephalicus staut. Würde ein zweiter, wenn auch noch so kleiner Ton (klingt er in der Praxis wirklich klein?) gesungen, so wäre eben dieser Stau zerstört. Das bedeutet: von der Genese her ist weiterhin augmentative und diminutive Liqueszenz zu unterscheiden, praktisch erklingend gibt es nur die augmentative Liqueszenz. Dies gilt für Scholen, die die eigentliche Gregorianik singen wollen. Wer im Geist des 12. Jahrhunderts und später singen will, kann und soll einen Nebenton singen.

Ein erhellendes Beispiel bilden zwei Vesperantiphonen zum Fest der hl.Lucia, die unmittelbar hintereinander stehen und zweimal die 1TER de5 in Binnenposition verwenden, da die wesentliche Aussage der Antiphon hier bereits vollständig vorliegt (0055, 0056). In 0055 geht es darum, dass Lucia Zeugin für Chrístus ist. Daher wird die für den Cento constitutive Clivis zum Cephalicus reduziert, der Stau auf der Endsilbe „mar-tyr/“ provoziert den Akzent Chrí-sti. In 0056 wird Lucia für ihre Geduld gelobt. Sie war geduldig, weil sie „Bráut Christi“ ist. Der letzte Akzent ist nicht betont, die Clivis führt fließend in den letzten Akzent „christi“. Der Hauptakzent selbst allerdings: „spónsa“ wird (augmentativ) ausgebreitet. Diese Erkenntnis sollte auch für das Mess­repertoire weitreichende Folgen haben.


1.7.2. zu "intio debilis"

Ein weiteres Faktum, seit langem bekannt aber nie konsequent zu Ende gedacht, ist der „Torculus specialis“. Er wird eingesetzt, ein Wort abzurunden, einen Akzent vorzubereiten oder wie in unserem Beispiel IN „Viri galilei“ einen Satz eröffnend. In Bv33 entfällt der erste Ton: Clivis, Ch schreibt einen Torculus, L und MR schreiben ein eigenes Zeichen mit Einrundung.

Wie soll nun diese Neume ausgeführt werden? Den ersten Ton voll zu singen oder einfach ausfallen zu lassen missachtet die Quellen. Den ersten Ton „ganz bewusst kaum zu singen“ erinnert an den Blick des Kaninchens auf die Schlange. In der Praxis wird dann der Ton kurz, aber sehr pointiert gesungen.

Welches Phänomen liegt sprachlich, akustisch, musikalisch vor, wenn die einen Handschriften einen Ton schreiben, die anderen aber nicht, die dritten sogar ein Spezialzeichen erfinden? Könnte der Torculus (auch Pes flexus genannt) nicht eigentlich eine Clivis sein, die von unten her „portamentoartig“ angeschliffen (österreichisch formuliert „angeraunzt“) wird? Wäre der bessere Name für den Torculus specialis nicht Clivis urgens?
Der Torculus specialis ist eine Clivis mit portamento.
Diese Erkenntnis ist auch auf den kurrenten Pes (kPes) anzuwenden. Der Wert seines „ersten Tons“ ist variabel je nach Kontext liegt er zwischen - Nicht Singen - und dem vollen Ton eines nicht kurrenten Pes (nkPes).

Sehr häufig steht der kurrente Pes auf der Binnensilbe eines Proparoxytonon (PPO). Dieser kPes soll nichts anderes, als das Verschlucken der Binnensilbe zu verhindern (vgl.: „dominus“, das im französischen längst zu „domnus“ verschmolzen ist). Die Antiphon „Domus mea“ 0733 ist in MR zweimal notiert, einmal mit kPes, einmal ohne. Die Austauschbarkeit des kPes mit der Virga weist auf die Leichtigkeit des „ersten Tons“ hin, er ist bloß ein portamento, das die Binnensilbe vor dem Verschwinden retten soll. Dieser „erste Ton“ kann als portamento auch keine bestimmte/andere Tonhöhe haben, sonst würde unser Wort nicht „vocábitur“, sondern müsste „vocatur“ heißen.

Die klassische Gregorianik denkt rezitativisch. Spätestens aber ab der Jahrtausendwende (schon im codex Hartker erkennbar) setzt sich ein musikalischer Zugriff auf die Melodien durch: Tonwiederholungen sind verpönt, Intervallsprünge werden wo es geht zu Tonleitern aufgefüllt, die Neumen beginnen mit der ersten Note. Nicht erst das Tridentinum (Palestrina), schon die Zisterzienserreform kritisiert die „falschen Betonungen“ im gregorianischen Choral. Der Fehler liegt aber nicht bei den „Komponisten“ sondern bei den Ausführenden des 2. Jahrtausends. Der Unterschied zwischen kPes und nkPes ist vergessen, die Melodie ist verändert. So klingt es in unseren Scholen, bei allem Bemühen den „ersten Ton“ leicht zu singen landauf landab „do--nus“ und nicht „-minus“. Wir denken die Neumen viel zu sehr als Musik„noten“ und nicht als Hinweise auf Sprache. Diese Erkenntnis ist gerade für die Centones des Incipit entscheidend.



2. INCIPIT

Der Protus authenticus kann seine Aussage auf vier Ebenen treffen: drei unter­schied­­liche Ténorebenen bedeuten unterschiedliche Aussageintensität:

„la“, - hohe Spannung
„sol“ - mittlere Spannung
„fa“ - niedrige Spannung. Dazu kommt noch die Finalisebene „re“, auf der spannungslos unterkühlte Texte rezitierend beginnen.

Die Möglichkeiten eines Incipit sind wie bei der Terminatio assoziativ weiterentwickelt. Ausgangspunkt ist die Formula alloquium, die den Tonraum des 1.Psalmtons ausschöpft („fa-la“).


2.1. Anrede

 Die Anredeformel 1FML alloq steht in der Position des Incipit. Codex Hartker schreibt beim ersten Erscheinen dieser Formel 0045 „e“ equaliter zwischen erster Virga und dem folgenden kPes, später nicht mehr. Das Wissen um die Gestalt des Cento wird vom Schreiber in der Folge vorausgesetzt. Anders als heute gängige Ausgaben (Während AM 1934 in allen Fällen Pes „sol-la“ schreibt, respektiert AMn den Schreiber Hartker und bringt in den beiden Fällen wo „equaliter steht einen Pes „fa-la“ , aber nur dort) schreiben wir in allen Parallelfällen unisonischen kPes „fa-la“. Einweiteres Mal erinnert Hartker daran, wie diese Formel/ dieses Wort zu klingen hat, wenn die Anrede (alloquium) zum ersten Mal in Binnenposition erscheint 0170.

Interessant sind die fünf Fälle, wo der Binnenpes des PPO durch einen akzentvorbereitenden Torculus ersetzt wird. „Factus ést adiutor meus deus meus“ - „mein Gott ist (wirklich) mein Beschützer geworden“. „Lazarús“ und „Israél“ sind hebräische Namen, die immer auf der Endsilbe betont werden. Das ist der Schlüssel für die „falsche“ Betonung des Wortes dominus. Mit „DOMINÚS“ meint der „Komponist“ das „kyrios“ der Septuaginta, das unaussprechbare Tetragramm der hebräischen Bibel.


2.2 Clivis-Incipit

1INC Clv Wenn der Aussagegipfel nicht gleich am Beginn der Antiphon steht aber unmittelbar folgt, wird das „Incipit cum clive“ verwendet. Es ist das häufigste Incipit und kommt im Kernrepertoire über 130 mal vor. Der Cento ist in der Regel zweiakzentig. Verfügt das Incipit nur über einen Akzent, wird es gekürzt (1INC Clv - vide: 0600,2594).

Kern des Cento sind die drei Silben vor dem letzten Akzent: die drittletzte Silbe ist die Clivis „re-do“, dann folgen die Silben „fa“ und „sol“, worauf der Akzent folgt: nkPes „fa-la“, wie in der FML alloq. Der Akzent des letzten Wortes liegt auf dem nkPes fa-la. Ist das letzte Wort ein PPO, so wird der Pes auf zwei Silben aufgeteilt, der zweite (Binnen-) Ton wird durch Urgenz gestärkt (kPes = Virga urgens). Alle diastematischen Quellen schreiben für den ersten Ton des kPes „sol“. Die Erkenntnisse bzw. Überlegungen zur FML alloq werden analog auch hier angewendet. Ist das letzte Wort Oxytonon (O), 1036 „Ab insurgén-ti-bus in mé“, so rutscht der Akzent natürlich an die letze Silbe, die vorletzte Silbe „in“ ist dann Epiphonus „sol“ und staut den Akzent an. Soll das Incipit mit Doppelpunkt oder Fragezeichen weitergeführt sein, so wird es wie Oxytonon behandelt: 0235 „Dixit dominus matri suae: mulier ecce filius tuus. ad discipulum autem: ecce mater tua, alleluia“. „Das sprach der Herr zu seiner Mutter: Frau, siehe da dein Sohn; zum Jünger aber: siehe deine Mutter“.

Ein weiteres Mittel die Artikulation des Textes zu modifizieren, ist die Clivis drei Silben vor dem Akzent (cf.: 1TER). Die Clivis führt weiter, sie kann aber zum Cephalicus reduziert sein, dann staut der Cephalicus und der folgende Text wird so in seinem Gewicht verstärkt. 0056 „In tua patientia possedisti animam tuam, - Mit deiner Geduld hast du deine Séele bewahrt. 0711 „Tu autem) cum oraveris intra in cubiculum“ - „Du aber) wenn du betest geh in dein Kämmerlein…“.

Die praetonischen Silben (bis zu fünf) vor der Clivis 0079,1520 rezitieren auf re. Hat dieser praetonische Text einen (leichten) Akzent, der hervorgehoben werden soll, so springt die Rezitation re auf der Silbe vor dem Akzent zum fa. 0063,1041.

Die weiterführende und verbindende Funktion der Clivis wird nicht selten auch am Ende des Centos eingesetzt 1520. 1676 „Unus ex duobus → qui secuti sunt dominum…“ - „Einer von den beiden die dem Herrn gefolgt waren…“.

1294 „ibat ie-sús“ vermischt „INC Clv -“ mit dem akzentvorbereitendem Torculus.

Die für dieses Incipit typische Clivis kann aber auch die Binnenformel MED triv einleiten. Die unterschiedlichen Centones sind nicht immer klar von einander abgesetzt. Entsprechend einer Gedächtniskultur sind die Antiphonen assoziativ komponiert und so kann der Übergang von einem Cento zum anderen fließend sein 1362.


2.3. QuintPes-Incipit

1INC 5Pes Wenn der Hauptakzent, die Sinnspitze der ganzen Antiphon bereits an ihrem Beginn steht, so springt die Melodie unmittelbar die Quint hoch zum Ténor la. Mehr als 90 mal wird dieses Incipit im Stammrepertoire verwendet. Dabei können vor der Sinnspitze ein bis vier praetonische Silben stehen. Der erste Akzent öffnet immer mit Pes „re-la“ (viel häufiger kPes als nkPes) den Quintraum. Die praetonischen Silben werden syllabisch additiv davorgesetzt:
1 „re“ Eine einzelne praetonische Silbe allein ist allerdings immer als kPes ausgebildet, den man hier besser als Virga urgens bezeichnen würde.
2 Silben „do“ + „re“,
3 Silben „mi“ + „do“ + „re“,
4 Silben „re“ + „mi“ + „do“ + „re“.

In 0666 ist die Wiederholung des „re“ „Si-mi-le est énim“ als Diaerese der einen Silbe „Si-mi-lest énim“ zu verstehen. In 0237 ist die Abweichung von der Normalform (vide 0245 „Iste est iohánnes“) als zusätzlicher praetonischer Kleinakzent „Íste est iohánnes“ zu erklären.

Vielfältig sind die Möglichkeiten, den(die) Hautakzent(e) darzustellen: Den (erste) Hauptakzent des Cento bildet die Dreitonneume „re-la-si“. Traditionell würde sie als teilweise artikulierter Scandicus bezeichnet (Scandicus mit vorbereiteter Endartikulation (-23)). Man sollte ihn besser nkPes urgens nennen, denn seine eigentliche Funktion ist der nk AkzentPes „la-si“ aus der Rezitationsebene la heraus. Verstärkt wird er durch das portamento re-la, das ihn emotional verstärkt (Vergleiche dazu die Schreibung dieser Neume in Ang im Messrepertoire manchmal wie üblich z.B.: 0017, aber meist wie im IN Exclamaverunt 0057.

1435 Die schwächste Form von Hauptakzent ist der bloße kPes re-la. „Misso he-ró-des spiculatore praecepit amputare caput iohannes“. „Heródes schickte einen Soldaten…“ Herodes ist wichtig, aber kaum wichtiger, als der weitere Bericht. 1207 „Túnc práe-cepit omnes igne cremari“ „Dánn befáhl er er ihnen“. Steile Fügung: zwei gleichwertige Akzente, aber beide nicht sehr stark. Ebenso in 0769 „Vá-do ád patrem meum“. 0211 „Sáu-lé quid persequeris martyrem meum stephanum“. „Saulus warum verfolgst du…“ Starker Anruf. Der Name „saulús“ ist endbetont. 0218 „Io-cún-dus homo qui“ „Glúecklich der Mann…“ Der Akzent ist stark und wird von keinem zweiten Akzent gefolgt. Ebenso in 1044. 0675 „A-mí-ce nón facio tibi“ „Freúnd ich tue dir nicht unrecht“. 0024 „Éc-ce vé-niet deus et homo“ „Síehe, kómmen wird der Gott und Mensch“.

Nach und nach wird ein schwacher Akzent stärker, ein zweiter gesellt sich dazu. Von Fall zu Fall verändert sich das Verhältnis der beiden Akzente zueinander und sie werden immer stärker. Die folgenden drei Beispiele zeigen die Behandlung des PPO ebenfalls steigernd.

0307 „Hódie“, der nkPes re-la wird auf zwei Silben aufgeteilt. 0075 Der nkPes urgens wird auf das endbetonte „Do-mi-ní“ (= HWHJ) aufgeteilt. besonders aufwendig 1065 „Io-séph áb ari-má-thea“: „Ioseph ab“, jede Silbe ist für sich betont, dazu noch der Herkunftsort „arimáthia“.

Die restlichen Beispiele sind wieder Normalfälle wie 0675 und 0024, nur dass der erste Akzent bloß ein nkPes „re-la“ ist, er hat weniger Gewicht als der zweite Akzent. Der jedoch kann wieder dreifach abgestuft vorkommen: 0833 „Lí-bera me dó-mine“ „Rétte mich Hérr“. „dómine“ ist der wichtigere Akzent, aber dynamisch zu sprechen: kPes. Ebenso 1722 „Iám non dí-cam vos servos“: „Aber ich nén-ne euch nicht Knechte“. Im Gegensatz dazu: 0856 „Mittens háec mulier“ „salbend mich díese Frau“. nkPes. Der letzte Fall ist kaum adäquat ins Deutsche zu übertragen.

Das Incipit 5Pes wird nicht selten mit 1NMA appl, „applicatio“ (s.u.) abgeschlossen. Im Nachhinein verstärkt sie die im 1INC 5Pes angesprochene Person/Sache und grenzt sie von der nachfolgenden Aussage ab.

Sehr oft transponiert die „applicatio“ die Ténorebene la zum sol tiefer. Dann wird die 5TonNeume Clivissuprapunctisflexus (applicatio) zur 6TonNeume Clivissuprapunctissubpunctis erweitert (applicatio ad sol). Dem Schlusston „sol“ folgt in den adiastematischen Handschriften ein Oriscus. Die diastematischen Handschriften schreiben in etwa gleich oft den Oriscus als eigenen Ton wie sie ihn auch negieren. Wir deuten den Orisus als Signal, einen neuen Cento zu beginnen und wiederholen daher das „sol“ nicht. Die anderen 1INC 5Pes schließen mit la, mit oder ohne applicatio, und führen von dort aus weiter.

In 0666 sind sich die adiastematischen Handschriften nicht einig, wie der Text zu Klang zu bringen ist. Mont Renaud (MR) legt das Incipit klassisch zweiakzentig an: „Sí-mile est rég-num caelorum“. Hartker hingegen schiebt in den Text ein „enim“ ein und macht dieses zum eigentlichen Akzent: „Simile est énim regnum caelorum“. Eine Variante, die auf deutsch vielleicht nur mit veränderter Satzstellung übertragen werden kann: „Denn) → das Himmelreich gleicht einem….“


2.4. Vorspann - 1INC vrstr

Wenn eine Antiphon mit einem Vorspann - einer Anamnese - einer Ouverture beginnt, die von der eigentlichen Aussage abgesetzt ist, so wird dieses Incipit verwendet. Die adiastemtischen Handschriften kündigen diesen Cento mit Virga strata an (zur Virga strata s.u.). Auch dieser Cento ist zweiakzentig, nach drei praetonischen Silben folgt entweder PPO (Pes mi-fa, Virga sol, Clivis fa-mi) 0030, 0292 oder PO (Virga fa, Virga mi) 0269, 0363. Es ist also ein starker melodischer Unterschied, ob der vorletze Akzent PPO oder PO ist.

In 0095 ist bestätigt, wie konsequent hebräische Namen(Wörter) auf der Endsilbe betont werden: „Lex per moysén data ést“. In der Antiphon „Sana domine animam meam - quia peccávi tíbi“ 0375 wird der Vorspann zu einem Nachspann.


2.5. Berufung

1INC voc Nur viermal kommt das Incipit vocatio „Berufung“ vor, eine Variante von INC Clv die über das „mi“ nur zur Quart, dem „sol“ geführt wird. Es ist nicht Eigenart der antiphonalen Komposition Inhalte des Textes zu vertonen, sozusagen eine Art Programmusik zu sein. Aber dieses Incipit ist die Ausnahme die die Regel bestätigt. Man könnte natürlich den Melodiebogen als Clivis-Incipit mit Verinnerlichung durch das „mi“ bezeichnen, uns scheint es klarer, den Cento als Berufungs-Incipit zu bezeichen:

0016 „Angelus domini“ Maria wird zur Mutter Gottes berufen,
1675 „Relictis retibus“ Jesus beruft am See Genezareth Petrus und Andreas zu Aposteln,
1900 „Loquere domine“ Samuel wird im Traum gerufen und spricht: „Rede Herr, dein Diener hört“
1901 „Obsecro domine“ David erkennt, er soll keine Volkszählung veranstalten, sondern den Tempel bauen.


Die folgenden Incipites sind nicht mehr alleinig dem Protus authenticus zugehörig, sie werden modusübergreifend eingesetzt:

2.6. Incipit zur Quart

1INC ad4 Das Incipit zur Quart ist eigentlich ein Cento des 4.Modus.  Im Protus wird es für Texte mittlerer Spannungsebene verwendet, um einen Gegensatz zum Protus von der Quint zu bilden, eine Kontraststufe zum Ténor „la“ zu erreichen.

Wird der Text länger, so wird mit „mi“ - „sol-la“ erweitert. Diese Art der Erweiterung wird auch in anderen Centones verwendet, z.B.: 1TER de5 0211 u.a. Ihre eigentliche Heimat ist der 7. Modus, dort als Signal für die Sinnspitze am Anfang der Antiphon.


2.7. Incipit zur Terz (2.Modus)

INC ad 3 Das Intervall der kleinen Terz ist konstitutiv für den 2.Modus, wird aber auch im 1.Modus eingesetzt. Die Antiphon „Columna es immobilis“ ist weitestgehend eine des 2.Modus, nur die beiden Terminationes gehören zum 1. Modus „lucia martyr christi“ 1TER de5, „coronam vitae alleluia 1TER verb.add.

Zum Quilisma Es ist die Frage zu stellen, ob das Quilisma wirklich den „leicht hingleitenden Ton“ ausdrücken kann den Agustoni/Göschl postuliert,

3) L.Agustoni/J.B.Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, Band 2. S.58, 
Regensburg 1992.

wenn es eine „unverrückbare Säule“ vertont. Wir interpretieren das Quilisma als ein „a“ altius, das ein größeres Intervall einfordern soll als üblich. Stünde an dieser Stelle ein nkPes, würde jeder gregorianikversierte Mönch einen SekundPes „re-mi“ singen. Weitere Überlegungen zum Quilisma siehe

4) X.Kainzbauer, Die Virga quilismata, in: Psallite sapienter. Festschrift zum 80.Geburtstag von Georg     
Béres 285-320, Budapest 2008.

2.8. Incipit zur Prim (zur Finalis)

1INC ad1 Spannungslose Texte (Einleitungen) beginnen mit „do“ und rezitieren auf „re“. (Incipit zur Prim)

Neben 0723 ist ein weiteres Beispiel für diesen Cento 0721 „Ductus est iesus in desertum“. Die Einleitung ist beiläufig aber keineswegs ein „Vorspann“.
Ein exquisites Beispiel ist die Antiphon an Inventio Crucis 1209 „Ecce crucem domini“. Im Gegesatz zu Bachs Johannes-Passion (Aria: „Es ist vollbracht“ (piano) - (plötzliches forte): Der Held von Juda siegt mit Macht) ist „vicit leo“ mit dem schwächsten Cento vertont, den es geben kann: 1INC ad1.



3. TYPOS

Der erste Modus kennt nur einen einzigen Typos  ( 1 TYPOS, Typos protus authenticus). Er verklanglicht zweiteilige Texte, deren Hauptakzent im 2. Viertel liegt:

Hesterna die Dóminus / nátus est in térris /
ut hodie Stéphanus / nasceretur in cáelis.

Die Texte der meisten Antiphonen sind psalmogen, auch viele neutestamentliche Antiphonentexte haben die typische Psalmstruktur, nämlich den parallelismus membrorum: eine Aussage der ersten Psalmvershälfte wird in der zweiten Hälfte weitergeführt, begründet („quia“ etc.) oder mit anderen Worten wiederholt. Dieser Doppelstruktur-, gregorianisch besser beobachtet: dieser vierteiligen Struktur des Textes entspricht auch eine bestimmte typische Melodie. Jeder Modus hat seinen eigenen TYPOS. Der Begriff Typusmelodie wird vermieden, um einer rein musikalischen Sicht, vom Text abstrahierend, vorzubeugen. Nicht nur die Melodie, auch der Text ist typisch, ohne diese Textstruktur gibt es diese Melodiestruktur nicht.

Während die Terminatio wechseln kann, am häufigsten ist es 1TER penult, sind die anderen drei Teile fix: Immer wird mit 1INC clv begonnen, die beiden Medialcentos sind 1MED mdt und 1MED nov.

Der 1 TYPOS hat einen Cento für die Mittelkadenz (Mediatio) 1MED mdt und einen für den Neuanfang (Reintonatio) nach der Mediatio 1MED nov.



4. MEDIUM

Medium-Centones gibt es nur 2(3): die Mediatio und Reintonatio des TYPOS (1MED mdt + 1MED nov) und das Trivium (1MED triv), den Mittelcento dreiteiliger Antiphonen und Füllformel beliebiger Position.


4.1.1. MED mdt

Nach dem Clivis-Incipit wird im Cento die Hauptaussage der Antiphon mit dem melodischen Höhepunkt „sa“ erreicht. Der Nebenakzent des Cento erreicht nur mehr das „la“, bevor der Cento auf „sol“ beschließt.

0018 Noch bevor sie zusammenkamen … war óffensichtlich, dass María … schwanger war…

0199 Gestern ist der Herr, gebóren dieser Wélt …

0737 Ein PPO auf dem letzten Akzent teilt den Akzentpes fa-la auf zwei Silben. Wieder wird die Binnensilbe (la) durch dem kPes verstärkt. Wieder schreiben spätere Handschriften eine durchgehende Linie: „fa - sol-la - la“, während ältere Quellen (T1, aber auch Lc !) auf den Durchgangston (sol) verzichten, was dafür spricht, den kurrenten BinnenPes als portamento zu verstehen.

1320 Ist der Text zu kurz, wird mit Synärese gearbeitet, 0239 eine praetonische Clivis verstärkt den folgenden Akzent, ohne ihn zu „betonen“. „e-léc-tus, quem elégi“

2002 Die Elision der praetonischen Clivis mit dem Akzentton „la“ zum Porrectus „fa-sol-la“ gibt dem Akzent Breite ohne Schärfe und führt weiter „sánc-tos persequéntes“.

0170 In der Magnificat-Antiphon von Weihnachten wird gezeigt, wie die „Doppelpunkt-Funktion“ erreicht wird: der Cento schließt nicht auf sol, sondern auf la. „Chrístus nátus est:“

Der Cento MED mdt kann aber auch auf einen einzigen Akzent verkürzt sein, um unmittelbar in eine TER zu münden: 0845, 0893, 1827.


4.1.2. MED nov

Die Reintonatio, der Neuanfang nach der Mittelkadenz/Mediatio 1MED nov, rezitiert auf sol, der Akzent hebt sich zum la (1toniger Pes), die zwei posttonischen Silben gehen stufenweise zum fa. Die Akzentsilbe kann durch kPes verstärkt werden: 1716.

1046 folgt ein nachgestellter Akzent „et incli-ná-to cá-pite“

0170 In der Magnificatantiphon von Weihnachten wird das entscheidende Wort „apparuit“ - „erschien der Erlöser“ (Epiphanie) in steiler Fügung doppelt betont: áp-pá-ruit“ Dieses PPO wird zusätzlich noch auf der Binnensilbe mit Clivis verbreitert (siehe auch 0242). 2002 Ebenso wird mit dem Schlüsselwort des Magnificat verfahren: „et ex-ál-tá-vit humiles“

Vor dem Hauptakzent des Cento 1MED nov kann ein weiterer Akzent liegen (z.B.:0239 „he-ró-des con-fú-sus est“), dann schwenkt die Melodie nach dem Vorakzent kurz zum mi, um mit dem sol zum Hauptakzent la zu steigen. Liegt nur eine Silbe zwischen den beiden Akzenten, verbinden sich mi und sol zum nkPes.

0219 Ist das (Haupt)Akzentwort ein PO (nur eine posttonische Silbe), so verbindet sich das nun überflüssige sol der Binnensilbe mit dem Akzent zur Clivis la-sol.

0076 Soll der Cento mit Doppelpunktwirkung weiterführen, so erhält die letzte Silbe einen nkPes: „qui póst me vénit: ante mé factus ést.“

Drei Beispiele individueller Varianten:

0742 “Der mich geheilt hat / hat mir befohlen* nimm dein Bett (griech.: krábatos, ärmliches Lager, österr.:Graffl?) / und geh´ in Frieden.“ Normalerweise wäre dieser Cento zweiakzentig „tolle grábbatum túum“. Der Verzicht auf den zweiten Akzent und das bloß rezitativischen Auslaufen des restlichen Textes geben dem Text eine gewisse Schnoddrigkeit, die auf hochdeutsch kaum auszudrücken ist.

1730 „Seht, ich schicke euch / wie Schafe mitten unter die Wölfe* seid also klug wie die Schlangen / und arglos wie die Tauben“. „estóte ergo prudéntes“. Das bloße Rezitieren des Textes, der Verzicht auf die übliche Melodie

ist wohl die Klugheit der Schafe: Zurückhaltung, Bescheidenheit, ohne auf die beiden Akzente zu verzichten: Epiphonus und Cephalicus: sorgsames Absprechen der Akzentsilben reicht aus, sich verständlich zu machen. Dabei bleibt die Standardmelodie immer mitgedacht, wie das equaliter nach „érgo“ beweist.

0816 „Herr, wärest du hier gewesen / Lazarus wäre nicht tot* schau, er stinkt schon / vier Tage im Grab“. Der Text „ecce iam foetet“ steht in der Position des Cento NEO. Abgesehen von der FML retardens müsste der Cento auf fa enden, wie in fictio 2. Er endet aber auf re, daher die Wendung zur TER la-fa-re. Darüber hinaus ist hier die Erzählung tatsächlich zu Ende, was noch kommt, ist verzichtbar. Auch daher ist TER berechtigt. Die Melodie müsste etwa wie fictio 1 klingen. Der Komponist nutzt aber die Gelegenheit, das entscheidende Wort „iam“ durch Syneresis der vorhanden Töne zu einem Pes subpunctis zusammenzuziehen und damit zur theologisch schwerwiegenden Aussage zu machen.

Der Cento 1MED nov kann auch bloß einakzentig sein. Dann entfällt der Unterschwung zum „mi“.


4.2. zur Virga strata

Ruhend auf den solesmenser Editionen und Kommentaren des frühen 20. Jahrunderts, erklärt die opinio communis die Virga strata als eine Art „Bivirga“ oder „Halbtonpes“. Darüber hinaus gehe es nach der Virga strata immer tiefer weiter. Keine dieser drei Behauptungen hält einer Zusammenschau der diastematischen Handschriften mit den adiastematischen stand. Schon die zweite Antiphon des Repertoires 0004 geht nach der Virga strata melodisch höher weiter („il-la“ vide Lc!). Im Übergang von INC zu 1MED mdt und vor allem zu 1MED nov lässt sich eine Verdoppelung des Tones aus den Quellen nicht ablesen, wenn auch Solesmes konsequent gegen alle Quellen zwei Töne schreibt (vide Tableau 0018 etc.). Diese Virga strata hat die Aufgabe den Übergang von Cento zu Cento anzuzeigen, vergleichbar dem Schnipsen des Filmregisseur beim Wechsel von einer Kamera auf die andere. Die Namengebende Virga strata wird zwar meist als Doppelton notiert, nie aber in Ka, öfter auch nicht in Lc. Offensichtlich wird bereits mit Beginn der Diastemie der Sinn der Virga strata (des Oriscus) vergessen, nur einzelne Handschriften bewahren dieses Wissen.
Die Tonanzahl einer Neume ist viel weniger wichtig, als es die Tonstufen sind. Eine grundlegende Untersuchung, zum Oriscus: zu Virga strata, Pes Quassus, Pressus; inwieweit der Oriscus eine centologische (Formel abgrenzend) oder semiologische (Sprachbogen weiterführend) Bedeutung hat, steht noch aus.


4.3. MED triv


Gang durch die große Terz – trivium – trivial. Die melodische Floskel f-g-a-g-f, der triviale Gang durch die große Terz, bildet den Kern eines Binnencentos, der sehr häufig (über 500 mal) verwendet wird, äußerst vielgestaltig sein kann und sich jeder denkbaren Textgestalt anpasst: 1MED triv. Er ist emotional nicht besonders geladen und wird verwendet, wenn kein anderer, wesentlicher Aussagegrund vorliegt. Nicht selten ist der Cento einakzentig, dann liegt der Akzent auf „la“ (nicht so in 1520).

0363 Dreimal wird in dieser kurzen Antiphon eine zusätzliche Clivis gesetzt. Das 1INC Vrgstr wird durch die nkClivis auf der Endsilbe“me-is“ mit dem folgenden Cento 1MED triv verbunden. Die kClivis „do-mi-nus auf der Binnensilbe ist nicht centonotwendig. Sie kann als Gegenstück zum kPes der Binnensilbe in den SchlussCentos verstanden werden. Dem Wort wird damit mehr Zeit gegeben, ohne es zu betonen. Auch die 1TER conc käme normal ohne Clivis aus. Die Clivis mittleren Wertes „domi-no“ verbindet und enttont den möglichen Akzent „méo“.

Häufig folgt ein zweiter, weniger wichtiger Akzent. Er führt aus der Rezitationsebene fa zum sol. An diesem zweiten Akzent ist mustergültig abzulesen, wie die unterschiedlichen Möglichkeiten des Pes (1 - 3 tonig) die Schwere des Akzentes dosieren :

0463 „fundaménta eius“ = kein Pes, der zweite mögliche Akzent wird nicht betont.
0416 „adiutórium nós-trum“ die Silbe „nós-trum“ hebt sich mit einer Virga sol aus der Rezitation fa = zwei Stufen, aber nur 1 Ton: „eintoniger Pes“.
0095 „gratia et -ritas““ – kPes. Die Schwere nimmt zu.
1905 „sicut davíd fi--lis“ – nkPes. Das Gewicht des zweiten Akzentes wird größer.
0098 „nasci sál-va--rem“ 3toniger Pes (traditionelle Bezeichnung = Einklangsscandicus mit Anfangsartikulation“). Das Morphem (die sinntragende Silbe „salv-) und der grammatische Akzent („salva-tó-rem) sind ziemlich gleichwertig.

Sind Texte zu Klang zu bringen, deren beide Akzente gleichwertig sind, so entsteht eine M-Form. Der zweite Akzent liegt auf dem zweiten „la“,
0048 „in -ti-ó-nibus“ Der Sinnakzent („nátio“) und der gramatikalische Akzent („natiónibus“) stehen auf gleicher Höhe.

1960 Das Wort des zweiten Akzentes, das fast immer PPO ist, kann mit Clivis auf der Binnensilbe erweitert werden (wie oben 0363).

0636 + 1760 Die Synärese der ersten drei Töne zum Torculus fa-la-sol geschieht nicht bloß wegen zuweniger Silben, es sind Worte, deren Wichtigkeit einen Torculus verdient: „ápóstolus“ – „ápériens os súum“. 1760 bringt zu Torculus und Binnensilben-Clivis noch eine zusätzlichen dritten Akzent.

0295 Bei entsprechenden kurzen Texten kann der Cento 1BIN triv unmittelbar mit dem „la“ beginnen (auch 0024).


4.4 zum Doppelpunkt - colon

Es ist eine Eigenart der gregorianischen „Komposition“, ja jeder Komposition ob klassisch, barock, modern oder eben gregorianisch, eine weiterführende Wirkung zu erzielen, einen Doppelpunkt (colon) zu setzen, indem der eigentliche Zielton des Cento (der Phrase) verfehlt wird (cf.: Beethoven „Ode an die Freude“ „Elysium: - Heiligtum.“. In der 1MED triv ist das besonders offensichtlich. Oft endet der Cento auf dem „re“ indem er von „sol“ abspringt 1440 (auch 0024), oder absteigt 1615.
Der Cento BIN triv kann aber auch zum → la aufsteigen 0699.

Die Beendigung des Cento auf „sol“ wäre die übliche Art Doppelpunkt zu setzen, wird aber hier selten verwendet 1968 oder schon außerhalb des Reperoires von Hartker 2552.

Aus diesen Grundelementen werden den Texten und den benachbarten Centones entsprechend, oft recht individuelle Melodien gebildet. Grundformen werden verschmolzen, der Terzgang verkürzt oder angereichert z.B.:1356.



5. FORMULAE

Formeln werden auf die Centones aufgesetzt, um diesen eine spezielle Aussagerichtung zu geben.

5.1. Formula applicatio

5.2. Formula PeCl

„Mit den Waffen der Gerechtigkeit in der Kraft Gottes liefern wir uns (Dir Gott) aus, in großer Geduld.“ Diese Formel, in der Barockmusik würde man sie Circulatio nennen, wird im gesamten Repertoire sehr häufig verwendet. G. Joppich nennt sie das „Ur-Melisma“. In den Antiphonen des 1.Modus wird sie ofensichtlich als Neume der Zuneigung (= applicatio / FML appl) eingesetzt. Meist in ihrer kurrenten Form als Clivissuprapunctis flexus auftretend, kommt sie auch nicht kurrent, so in MR fast ausschließlich, als Porrectus flexus vor. In dieser Antiphon kommen noch zwei weitere Formeln und eine individuelle Ausnahme vor: Die Formula PeCl, Pes und Clivis werden auf zwei Eintonneumen aufgesetzt, vergleichbar dem Torculus um ein Wort auszuweiten. In unserem Beispiel ist es „commendemus“, der Beginn der 1TER cum Clive. Die beiden ersten Töne der fallenden Linie la-sol-fa-mi werden mit augmentativer Liqueszenz gebremst, die beiden letzten mit FML PeCl ausgeweitet „liefern wir (uns) aus“. Beendet wird der Cento 1TER Clv mit der FML retard (s.u.). Den Schluss der Antiphon bildet 1TER de3, aber der erste Ton des Cento ist in dividuell verändert: „in multa patientia“ müsste mit „fa“ beginnen, bewegt sich aber „mit viel Geduld“ vom „do“ der vorherigen Formel schrittweise in die Terminatioformel. Solche
indiviuelle Änderungen sind gar nicht so selten, aber immer aus der Textinterpretation klar einsehzbar.

5.3. Formula retardens

5.4. Formula digitus

Die Aufgabe der FML retard ( nkPes „re-fa“ und nkClivis „fa-do“, richtiger formuliert nkTorculus „re-fa-do“ mit Amplifikation auf dem „fa“ ) ist es, eine Kustpause zu halten, die Spannung aufbauend zu stauen, in unserem Fall „commendemus nosmetipsos“← was die folgende Aussage zur pointe der ganzen Antiphon macht: „in multa patientia!“.
Vergleiche auch 0049, 0737, 0739.

Die FML digit Bivirga „fa“ mit folgendem Pes subpunctis zum „do“ hebt den belehrenden Zeigefinger. Die Antiphon 0815 „Lazarus amicus noster“ besticht mit klassischer Klarheit: zweimal 1TER de5, zwei getrennte endgültige Aussagen. Die Anrede „Lazarús“ 1FML alloq wird mit 1TER de5 abgschlossen „unser Bruder schläft“. Der zweite Satz aber eröffnet mit dem belehrenden Zeigefinger: 1FML „Gehen wir“, die zweite 1TER de5 „und wecken wir ihn vom Schlaf auf“ überhöht das Wort „sómno“ mit einer 1FML PeCl, in diesem Fall sogar mit Pes und nkTorculus. Die zugrundeliegende Normmelodie ist klar erkennbar.
Vergleiche auch 0200, 0558, 0769.

5.5. Formula "quia"

Eine Formel die nicht nur im Protus Verwendung findet ist die 1FML „quia“. Sie steht zuerst einmal beim oder neben dem Wort „quia“ - weil. Dann steht sie bei Texten, die sinngemäß „quia“ meinen. Eine entgültige Beschreibung wird erst nach Analyse des gesamten Octoechos möglich sein. Unser Beispiel 0172 eröffnet im 2. Modus, nach der 1FML„quia“ leitet ein 1INC ad1 (transponiert) in 1MED nov. Den Übergang zeigt die Virga strata an. 1TER verb.add schließt ab.

5.6. Übersteigerung - supra la

Die 1TER de5, aber auch andere Centones werden nicht selten, vor allem wenn der Text zu lang ist mit den Tönen sol-mi-sol-la (das entspricht der Incipit-Formel des 7. Modus re-si-re-mi) erweitert, der letzte hohe Ton der Terminatio „sol“ zum „la“ überstiegen 1FML supra la. In unseren Analysen wird das mit einem schwarzen Dreieck angezeigt. Auch dieses Phänomen ist erst in der Zusammenschau des gesamten Octoechos endgültig zu beurteilen.

Damit sind im Groben und Ganzen alle Formulae des Protus authenticus angesprochen.



6. CONCLUSIO

Der Gregorianische Choral hat eine mehr als 500jährige Geschichte und damit auch Entwicklung. Die Vorstellung (opinio communis), Choral sei all diese Zeit immer eines gewesen, von leicht korrigierbaren Rändern abgesehen immer das unwandelbar Selbe, wie wir es aus den Handschriften des 13. Jahrhunderts singen könnten, ist geschichtslos fundamentalistisch. Schon im codex Hartker gibt es Antiphonen, die nicht mehr der ars cantilenae entsprechen (z.B die Trinitatis-Antiphon 0506). In ihnen werden nicht mehr die Regeln einer Sprachkunst angewendet, sondern das vorhandene Floskelmaterial wird frei/subjektiv phantasiert.

Die authentischen Antiphonen sind nach einem konsequent angewendeten Regelsystem komponiert, das der Textstruktur ent-spricht, das dem sinnhaftig vorgetragenen Text ent-klingt. Dieses logische Regelsystem ist es, das Helisachar unter ars cantilenae versteht.

Bei der Analyse der Regeln sind, quasi als Abfallprodukt, einige weitreichende paleographisch/semiologische Erkenntnisse neu gewonnen, oder alte zumindest vertieft worden. Sie folgen hier:

a) Eine Neume beginnt nicht mit der ersten Note, sie hört mit der letzten auf (grundsätzliche Endartilulation der Neume, des Cento, des Typos). Wir müssen neu lernen, die Dinge vom Ende her zu denken.

b) Eine Neume ist nicht durch die Anzahl der Noten bestimmt (eine Sicht der cantilena, die durch den Primat der Klaviertaste in unserer Musikpraxis vergiftet ist), sondern durch die Anzahl der Stufen (ein/zwei/dreitoniger Pes).

3) L.Agustoni/J.B.Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, Band 1. S.33, 
Regensburg 1992.

c) Gleichzeitig muss „initio debilis“ ernstgenommen werden: Der kPes (zweiton) auf der Binnensilbe des PPO ist eher eine Virga urgens (einton), bloß ein Portamento.

d) Die Liqueszenz bildet nie einen (kleinen) Nebenton, sie verhindert ihn.

e) Das Quilisma ist kein Ton, es ist ein a=altius (singe höher als üblicherweise!), ein Tonhöhenhinweis in Zeiten der Adiastemie.

f) Der Oriscus ist ein „Achtung“-Zeichen in vielen unterschiedlichen Kontexten. Er kann an Stelle einer Virga stehen, oder zusätzlich dazu. Wie weit es ein Zeichen der Semiologie ist und den Sprachbogen betrifft (G.Joppich), oder ein centologisches Zeichen ist (Hinweis auf die kompositorische Struktur), wird künftige Forschung zeigen. Semiologie und Centologie (Sprachbogen und Melodieverlauf, Text und Musik) sind nur die zwei Seiten der selben Münze.

g) Eine Formel neben ihrem eigentlichen Zielton enden zu lassen, ist weiterführend: Doppelpunkt.

Im Übergang von der Gedächtniskultur des Frühmittelalters (authentische Gregorianik) zur Diastemie (2.Gregorianik) sind die adiastematischen Handschriften des 10. Jahrhunderts, zu allererst Hartker, unser Zugang zum ursprünglichen Choral. Die vorliegende Untersuchung hat, im Bild archeologischer Grabungen gesprochen, einen kleinen Flecken im weiten Feld der ars cantilenae freigelegt.



7. EXEMPLA

gradual/comp_ant.txt · Zuletzt geändert: 2020/11/19 19:15 von xaverkainzbauer