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cento_an:cento

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Centonisation

Die Antiphonen bestehen aus einem assoziativen Geflecht von vorgegebenen Melodiebausteinen, deren Auswahl sich nahezu zwangsweise aus der Struktur ihrer Texte ergibt. Dabei wird einerseits das Akzentgefüge und die Interpunktion beachtet (grammatikalische Dimension, sie prägt schon die ältere responsoriale Komposition), andererseits werden konsequent dem Tonfall und der Aussagerichtung entsprechend die Melodiebausteine ausgewählt (emotionale Dimension, sie prägt eigentlich die antiphonale Komposition). Davor liegt die Wahl des Modus, die der konkreten Antiphon eine Grundbedeutung vorgibt.


MODUS

PROTUS authenticus (1): sachlich, höflich distantiert, plagalis (2): auch sehnsüchtig hoffend.
DEUTERUS (3+4): mystisch, theologische Wahrheiten werden so vertont.
TRITUS authenticus (5): überschwänglich kindlich optimistisch, plagalis (6): fromm, zufrieden.
TETRARDUS authenticus (7): jugendlich begeistert, plagalis (8): abgeklärt, weise.

Welchem Modus ein Cento oder Typos zugehört mit der Ziffer am Beginn der Kurzbezeichnung angegeben: 1 TYPOS, 8INC.


TYPOS

Der Großteil der Texte entstammt dem Psalter, sie sind paarig strukturiert. Auch viele der anderen Texte (Evangelien) sind so gebaut. Die Struktur: 1. Halbvers beendet mit Mediatio – 2. Halbvers beendet mit Terminatio führt im Gregorianischen Choral zu einer klaren Vierteiligkeit:

Incipit – Mediatio – Novum – Terminatio. Diese Namen werden mit Formeln aus drei Buchstaben angegeben:

INC   Incipit / Anfangsteil
MDT   Mediatio / Mitte, zweiter Teil
NOV   Novum ("Reintonatio") / Neuanfang, dritter Teil
TER   Terminatio / Schlussteil

Normale Texte, die keine spezielle Aussageabsicht vertonen wollen oder müssen und die immer die gleiche Struktur aufweisen, werden mit immer demselben Melodieablauf gesungen. Sie sind „typisch“ für den jeweiligen Modus und werden daher TYPOS genannt. Der Begriff „Typusmelodie“ wird von uns nicht benutzt, um der Verengung des Blicks auf die bloß melodische Seite der Antiphonen nicht Vorschub zu leisten.


Vierteilige TYPOI des 1. Modus und

des 7. Modus,

der TYPOS Protus von der Quart.


Zweiteilige Texte bestehen nur aus Incipit – Terminatio:

INC   Incipit
TER   Terminatio

Es kommen aber auch dreiteilige Texte vor. Sie bestehen aus

Incipit – einem Binnencento (Binnenteil), der nicht unbedingt abschließt wie die MDT, oder neu beginnt wie der Cento NOV – Terminatio.

INC   Incipit
MED   Binnencento / Binnenteil
TER   Terminatio

Zweiteiliger TYPOS des 6. Modus

Dreiteiliger TYPOS des 8. Modus mit INC – MED – TER.

Die „O-Antiphon“ ist ein sechsteiliger TYPOS.


CENTO

Als Cento (lat.: cento,-onis m. der Flickfleck) bezeichnet man die Halb-und Viertelsätze, aus denen die Typoi, ja alle Antiphonen zusammengesetzt sind. Sie tragen meist mindestens zwei Akzente. Unter Akzent wird hier nicht automatisch jede zweite oder dritte Silbe verstanden, die betont werden kann und schulmäßig betont werden muss, sondern nur die tatsächlich Gewicht tragenden Silben, die für die Melodieunterlegung im Cento auch relevant sind. Dabei kann trotz Latein auch eine dem germanischen Sprachempfinden eigene steile Fügung (z.B.: quí hábet) auftauchen.

sus háec dicéns clabat qui bet áures áudiéndi áudiat. (schulmäßig betont)

Iesus háec dicens clabat quí bet áures audiéndi áudiat.

Für die Centones Terminatio (TER) und Incipit (INC) gibt es nicht nur eine Form pro Modus, sondern je nach Aussageabsicht variieren sie. Am INC des ersten Modus (Protus authenticus) wird das beispielhaft aufgezeigt.

1FML alloq alloquium = Anrede. Diese drei Silben/Töne sind zu kurz für einen Cento, sie sind bloß eine Formula, aber sie bilden den Kern des Hauptincipits im 1.Modus.

1INC Clv Das Incipit mit der Clivis. Die Clivis „re-do“ führt zu „fa“ und „sol“, dann folgt der Terzaufstieg der FML alloq. Wird diese Incipoit verwendet, folgt unmittelbar darauf die Hauptaussage der gesamten Antiphon. Steht die Hauptaussage aber bereits am Beginn der Antiphon, so kommt

1INC 5Pes Incipit mit dem Quintpes zum Einsatz. Soll der Anfang der Antiphon jedoch ganz spannungslos, unterkühlt beginnen, so geschieht das mit

1INC ad1 Anfang zur Prim (Finalis) „re“. Eigentlich zum 2.Modus gehört das

2INC asc, es wird aber auch im 1.Modus angewendet, um eine niedere Spannungsebene des Textes zu etablieren. Der Protus authenticus hat drei Tenorebenen, die in längeren Erzähltexten gegeneinander abgewogen werden: la(5) - sol(4) - fa(3). Als Kontrast gegen die Quintspannung (la), aber durchaus höher gespannt als der Tenor plagalis (fa) ist das

1INC ad4 , das die Tenorebene „sol“ etabliert.

damit sind die hauptsächlichen Incipit-Möglichkeiten des Protus authenticus benannt.


FORMULA

Die centonale Struktur ist jedoch nicht selten durch zusätzliche Formeln angereichert. Formel(Formula) meint grundsätzlich eine Melodie von zwei bis drei Silben und nur einem Akzent. Dabei sind die Grenzen zwischen Cento und Formula, aber auch zwischen Cento und Typos fließend. Zwei Beispiele des Protus authenticus:

1FML retard Formula retardens (0816). Die Folge von Pes „re-fa“ und Clivis „fa-do“ zeigt einen Stau im Sprachfluss auf, eine rhetorische (Kunst-) Pause um die Spannung zu erhöhen („Lazarus - er stinkt schon / bereits vier Tage im Grab“)

1FML quia (0075). Die Folge von Pes „fa-la“ und Pes „sol-la“ leitet Kausalsätze ein und ist im Parallelismus membrorum der Psalmen nicht selten.

1FML PeCl Die Umspielung einer syllabischen Melodie mit Pes und Clivis, um das Wort zu verstärken, hervorzuheben. Sie ist in allen Modi zuhause. „E-go sum lux mundi“ der Cento 1INC Vrgstr müsste syllabisch beginnen, die Formel PeCl hebt das Wort „Ich“ – „Ego“, Christus spricht von sich selbst, hervor (0818).


NEUMA

Formeln können sich auf eine einzige Silbe reduzieren, anders gesagt, auch einzelne Neumen haben Formelcharakter; sie definieren die Normalmelodie genauerhin. Das Beispiel 0818 zeigt auf den Standard-Cento 1INC Vrgstr neben der 1FML Pecl auch noch einen Pes subpunctis Pes sbp (theologische Bedeutungsschwere) auf „lux“ und einen nkPes (Akzentverstärkung) auf „múndi“ aufgesetzt. Die semiologische Bedeutung der einzelnen Neumen siehe dort. Auch die Neumen werden grundsätzlich mit Sigeln aus drei Buchstaben bezeichnet (Pes, Clv, Trc, Por, Sca, Clm), aber in Kleinbuchstaben.


verwendete BEGRIFFE

O – Oxytonon: der Akzent liegt auf der letzten Silbe des Wortes: „cór

                                                    /

PO – Paroxytonon: der Akzent liegt auf der vorletzten Silbe des Wortes: „déus

                                                    /  .

PPO – Proparoxytonon: der Akzent liegt auf der drittletzten Silbe des Wortes: „dóminus

                                                    /  .  .

PPPO – Praeproparoxytonon: der Akzent liegt auf der viertletzten Silbe des Wortes. 0728nósmetipsos“, 1645glóriosa

                                                    /  .  .  .

steile Fügung: Zwei Akzentsilben treffen unmittelbar aufeinander, ohne dass eine unbetonte Silbe dazwischenliegt, wie es das lateinische Sprachempfinden verlangt, im Deutschen passiert das nicht allzu selten. Im Gregorianischen Choral treffen diese beiden Systeme aufeinander: 0421 „Beati omnes quí tíment DOMINÚM.“

cento_an/cento.1568109488.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/09/10 09:58 von georgwais